Vom Moosbären, einem küssenden Baum und anderen merkwürdigen Begebenheiten
Viele
Wege führten durch den Wald mit hohen Tannen, die ihre langen Wedel
im Wind treiben ließen, niedrigem Buschwerk eines neuen Waldes, der
nach einem Windbruch sich im Kleide jugendlicher Birken und zart
benadelter Kiefern zeigte, die als Erste zwischen Totholz und Erika
zum Licht strebten. An einem dieser Wege, der zu Füßen eines Hanges
mit uralten Buchen und Eichen entlangführte, stand eines dieser
bemoosten alten Häupter und langweilte sich grässlich. „Ewig“,
säuselte der Alte mit seinen Blättern, die Maler Herbst schon mit
leichtem Gelb betupft hatte, „ewig, stehe ich hier, und sehe nur
die alten Kameraden, die allmählich das Zeitliche segnen, umfallen
oder elend im Klingen der Sägen darniedergehen. Drüben im
Birkenwäldchen ist noch reges Leben, wenn das Wild sich im Gebüsch
versteckt. Wie lange ist es her, dass ein Reh in meinem Schatten
ruhte, immer das Gleichmaß Frühling, Sommer, Herbst und Winter,
immer die Eintönigkeit von Wind, Regen und Sonne und ewig singe ich
das gleiche Lied meiner Blätter, wenn ich doch pfeifen könnte, wie
jener junge Bursche der kürzlich durch den Wald streifte. Ich will
es versuchen, mit dieser Kunst, ein Liedchen zu pfeifen“.
Nun
begann er zu üben, versuchte Lippen vorzuwölben, diese
verzweifelten Anstrengungen ließen die Rinde quer einreißen. Töne
entlockten sich seinem Stamm, es klang wie das ferne Pfeifen eines
Zuges. Immer wieder spitzte der Baumgreis die Lippen und flötete,
was das Zeug hielt – doch nichts Klangvolles kam über die rissigen
Rindenlippen, nur ein Pusten und Tröten zum Steinerweichen. Und so
kam es, dass auch die Dryade des Baumes sich entsetzt die Ohren
zuhielt und aus ihrem geschützten Domizil heraustrat, um nach der
Ursache dieses entsetzlichen Lärms zu sehen. „He, alter Baum“,
wisperte sie, „was ficht dich an, die beschauliche Stille unseres
Waldes, die Ruhe der Natur mit lautem Schrecken zu stören?“ Der
Greis wedelte verloren und verlegen mit den Ästen, so dass ein paar
Blätter stoben. „Ich wollte das Pfeifen erlernen“, flüsterte er
kleinlaut. Die kleine Dryade kicherte und hielt dabei die Händchen
vor den Mund.
Sie
hatte nun aber völlig übersehen, dass ein dunkelgrüner Moosbär
herangerobbt war,
denn Moosbären bewegen sich nur bäuchlings wie
Reptilien vorwärts, pflegen aber am liebsten der Ruhe in feuchten
Waldgebieten, damit sie richtig dickes, weiches Moos ansetzen können,
so dass sie ganz davon bedeckt sind und wie merkwürdige modrige
Baumstämme aussehen. „Pfeifen wirst du wohl nie erlernen,
Alterchen“ brummelte der Moosbär zwischen seinen grünen
Stummelzähnen, „aber zum Küssen könnte es schon reichen“. Die
kleine Dryade lachte und küsste die rindigen, rauhen Lippen des
Baumgreises und die wuscheligen grünen des Moosbären. Nun breitete
sich Heiterkeit im Wald aus, alle Bäume lächelten in der Sonne,
wehten leicht mit ihren Zweigen und die kleine Dryade küsste immer
wieder den Baum und den Moosbären und konnte gar nicht damit
aufhören; denn alle hatten einen Heidenspaß mit dieser
Beschäftigung. Ob sie mittlerweile das Küssen beendet haben, ist
nicht bekannt. Aber wenn Ihr in den Wald kommt, hört einmal genau
hin, vielleicht hört man sie noch schmatzen.
©
Elke Gelzleichter 05.10.13