Sonntag, 23. Oktober 2011

Von dürren Worten und einem Fest der Sprache

Märchen über die Sprachverkümmerung
Einst hatten die Worte – es ist sicher schon hundert Jahre her – beschlossen, sich einer Diät zu unterziehen. Nicht mehr in Üppigkeit, ohne allerlei Zierrat, ohne barocke Verschnörkelungen, sollten die Dinge klar betrachtet und beschrieben werden. Alte Zöpfe wurden abgeschnitten, die Perücken eingemottet. So gingen die Jahre ins Land, ja irgendwann waren es Jahrzehnte. Vielen Worten gefiel die Abmagerungskur so, dass sie, regelrecht magersüchtig, so dünn gerieten, dass sie schließlich nicht mehr zu sehen waren und in Vergessenheit gerieten. Überall konnte man nur noch dürre Worte erblicken, die nur das Notwendigste beschrieben und, weil sie gar so dürr waren, sich oft mit Gästen aus einer fremden Sprache aushelfen mussten. Bis eines Tages im Mai:
Ein Kind saß über seinen Hausaufgaben, es sollte den Himmel, die Natur und alle Geschehnisse, die es dort beobachtete, aufschreiben. Nun saß es da mit seiner handvoll dürren Worten, sah zum Fenster hinaus an den Himmel und schrieb: "Der Himmel ist blau". Dann sah es Wolken darüberziehen und es schrieb: "Auch Wolken sind da". Dann sah es, dass zu den weißen Wolken sich schwarze gesellten. Es fügte die Worte "die Wolken sind schwarz und weiß" dazu und weil es entdeckte, dass der Wind blies, noch "Sie ziehen schnell". Dann betrachtete es den Garten mit dem Magnolienbaum: "Der Baum ist grün. Es sind noch ein paar Blüten da. Die anderen liegen auf dem Boden. Sie sind braun."
Nun überlas es den Text nochmals in seiner Gänze: "Der Himmel ist blau. Auch Wolken sind da. Die Wolken sind schwarz und weiß. Sie ziehen schnell. Der Baum ist grün. Es sind noch ein paar Blüten da. Die anderen liegen auf dem Boden. Sie sind braun." Ach, diese dürren Worten gefielen dem Kind ganz und gar nicht. "Ihr seid doch zu hässlich, ihr dürren Worte" schimpfte es und warf den Dauerschreiber zornig auf den Tisch; mit diesen Worten war es nicht möglich gewesen, das zu beschreiben, was zu sehen und zu fühlen war.

Eine kleine, rundliche Fee, die mit Worten zaubern konnte, hatte zufällig diesen Zornesausbruch gehört. Indem sie das kindliche Geschreibsel betrachtete, schmunzelte sie über das ganze Gesicht. "Na, das können wir ganz schnell ändern", sprach sie tröstend und strich über den Strubbelkopf. Simsalabim, schnell den Zauberstab geschwungen und alle Wörter, auch viele der vergessenen, standen bereit. "Heute feiern wir ein Fest der Sprache", lächelte die Fee und lud mit einer Handbewegung dazu ein. Da trippelten die Worte heran, sahen in das Heft und es begann ein buntes Treiben: In immer neuen Kombinationen stellten sie sich bis die Fee zufrieden und das Werk vollendet war. Mit großen Augen las nun das Kind:
"An diesem Maientag erstrahlte der Himmel in einem Blau, gleich der Farbe des Meeres in den Buchten ferner Inseln der Südsee. Doch ein frischer Wind trieb dicke, weiße Wolken vor sich her, zu denen sich bald dunklere gesellten, deren Schwärze von Regenschwere zeugten. Doch im Garten blieb das frische Grün des Magnolienbaums davon noch unberührt, wenn auch nur wenige seiner kerzengleichen Blüten noch an die erst kürzlich vergangene Pracht erinnerten, die jetzt den Boden bräunlich verfärbt bedeckte".
"So ist besser", es klatschte in die Hände. Aber die Fee hob ermahnend den Zeigefinger und sprach, an die Worte gerichtet: "Ich muss mit euch ein ernstes Wörtchen reden. Ihr seid Bestandteil einer kostbaren Sprache, so kostbar wie Sanskrit, sagen die Wissenschaftler. Entzieht euch nicht mehr eurer Pflicht. Zeigt mir einmal, wie heißen würde, wenn es jemand einfiele in der Sprache eurer Gäste zu schreiben "colour your life". Mit schnellen Getrippel bildeten sich die Sätze:
Bunt sei dein Leben", "gib deinem Leben Farbe", "dein Leben sei vielfältig und bunt" ....
Und wenn die Worte nicht aufgehört haben, sich in Sätzen zu formieren, so tun sie`s noch jetzt...
Text und Fotos: Elke Gelzleichter, Gifs: Gifmix