Samstag, 29. Oktober 2011

Die Dame in den Schwertlilien

Eine kleine, fast phantastische Erzählung.
Noch versprühten einige dunkle Wolken Regen, der fein herniederstäubend vor der Sonne, die jetzt doch durch die blau-grauen Massen brach, seltsam glitzerte. Über der Landschaft, in ein irreales Licht getaucht, bildete sich die riesige Brücke eines bunten Regenbogens und gleichsam sein Schatten, schwächer im Abbild, ein zweiter dazu.
Das Kind hatte ihn gesehen, diesen herrlichen Regenbogen, von der hohen Terrasse aus, die einen weiten Blick in den Garten zuließ, in die Allee der Johannis- und Stachelbeerbüsche, weiter durch die Mirabellen- und Apfelbäume hindurch, vorbei an dem reifenden Weizenfeld, über die Wiesen zu einem kleinen Wäldchen. Dort schien das Ende des wundersamen Bogens zu sein. "Ich will zum Regenbogen gehen", sagte das Kind, "weit kann es nicht sein, ich kann sein Ende sehen". Die Kleine schüttelte ihre blonden Löckchen und schritt tapfer aus, ihre Puppe fest an sich gepresst, auf ihren langen Erkundungsweg, vorbei an dem dicken Kirschbaum im Hof, dessen herzförmige Früchte verlockend im dunklen Laub leuchteten. "O, ja", sagte sie, "ich will mir etwas Wegzehrung nehmen", kletterte auf die alte Bank, die müde an den Stamm gelehnt, geduldig Wetterwechsel und Alter ertrug und nun auch noch das leichtfüßige Kind, das ein paar besonders schöne Früchte pflückte und in die Tiefe der Schürzentasche verschwinden ließ, ohne der rötlichen Flecke zu achten, die sie auf dem verwaschenen Rosa gleich verblühender Hortensien hinterließen. Über jedes der Ohren hing sie noch ein Kirschenpärchen, das zwar durch die Löckchen verdeckt wurde, aber mit jeder Kopfbewegung durch das Gekringel hindurch blitzte. "Ich will besonders hübsch sein, für den Regenbogen", flüsterte das Mädchen der Puppe ins Ohr, "ich habe gehört, dass Engel auf ihm wandern, da ziemt sich kein Alltagsgewand."
Die Puppe lächelte wie immer mit halb geöffneten Lippen und blickte stumm aus blauen Glasaugen. Weiter ging der Weg über knirschende weiße Kieselsteine, "von Hänsel und Gretel", hatte das Kind gemeint, "weil sie im Mondlicht schimmern". Der starke Duft eines Galanthus erweckte seine Aufmerksamkeit, es pflückte eine halb geöffnete Blüte und steckte sie zu seiner Haarspange, um so verziert durch die Streuobstwiese unter den Mirabellen- und Apfelbäumen zu wandern, die schon Fruchtansätze trugen, von denen aber etliche vom starken Regen abgelöst zur Erde gefallen waren. Es kümmerte sich nicht darum, auch nicht um den feinen Sprühregen, der immer noch Kleider und Haar netzte, sondern sah nur zum Regenbogen, der immer noch in weite Ferne gerückt schien. Der Weg schlängelte sich nun entlang des Weizenfeldes, gesäumt von Mohn und Kornblumen, Margaritten und vereinzelt einer Wegwarte. "Warte Du nur", nickte das Mädchen einem besonders großen, verzweigten Zichoriengewächs zu, "dein Ritter kommt noch, dich zu erlösen", weil es um die Legende der Jungfrau wusste, die auf ihren Geliebten wartet, der in den Krieg ins Heilige Land gezogen war.
Nun dehnten sich weite Wiesen, von einem breiten, mit lehmigen Fluten durchzogenen Bach bis zum Rand eines kleinen Waldes hin, halbhohe Gräser mit zarten rosa und lila Wedeln wechselten mit Sauerampfer, weißen und roten Kleeblüten. Nun wurde es dem Kind doch beklommen; denn von Ferne sah es Haus und Garten nur noch wie Miniaturen aus der Spielzeugschachtel, es drückte die Puppe fester an sich und meinte, wohl eher sich selbst zur Beruhigung als der stummen Gestalt, "nur noch ein Weilchen, gleich sind wir am Ende des Regenbogens" und dann ließ ein Anblick wie aus einem Zaubergarten es vor Freude auf einem Bein hüpfen. An dieser Stelle war der Bach durch eine Wiesensenke übergeflossen und hatte durch sein sumpfiges Gelände einem Meer von blauen und gelben Teich-Schwertlilien einen Garten bereitet.
Ein Knüppelweg führte durch den unsicheren Grund und über eine Hängebrücke bis zum Wäldchen aus Krüppelkiefern, Ginster und einigen hohen alten Buchen. Dorthin war aber der Blick des kleinen Mädchens nicht gerichtet, die herrlichen Schwertlilien hatten sein besonderes Interesse geweckt. "Davon werde ich der Mutter welche bringen, dann wird sie mich nicht so sehr tadeln" dachte es bei sich und schon versuchte es, ein Füßchen auf die sumpfige Wiese zu setzen.
Doch es spürte, dass es dem Boden an Festigkeit fehlte und erinnerte sich an die Mahnung der Mutter, nie den festen Boden zu verlassen und lieber einmal ausgetretene Wege zu gehen als auf einem schmalen Steg über unsicheres Gebiet, das jemanden in die Irre führen und versinken lassen könne. Es suchte nun nach einem besseren Weg, und bestieg geschwind eine kleine Anhöhe, von dort wollte es über das Schwertlilien-Tal blicken, um einen sicheren Zugang zu den Blüten zu finden. Plötzlich zeigte sich inmitten der grünen Büschel der Lanzenblätter und der Blumenfülle eine Dame, als wäre sie einem alten Bild entstiegen in einem grau-blauen losen Gewand, die mahnend den Finger hob. Das Mädchen verharrte, wusste nicht ob es zu ihr eilen sollte; denn dort wo sie stand, hätte doch fester Grund sein müssen. Als könne sie die Gedanken der Kleinen lesen, schüttelte die Dame den Kopf und zeigte mit dem ausgestreckten Arm in die Richtung, von der das Mädchen gekommen war. Es war wie der deutliche Befehl "geh' nach Hause".
O, wie war das Kind erschrocken, es dachte daran, dass sicher schon eine ganze Zeit seit seiner Wanderung vergangen war und die Mutter sich sicher sorgen würde. Schade, dass es ihr keine Lilien als Geschenk mitbringen konnte, doch gehorsam machte es sich auf den Heimweg. Sicher waren die gelben und blauen Schwertlilien der Garten der schönen Dame und es wollte sie nicht weiter verärgern. Es lief eilig über die Knüppeldamm durch den Sumpf zurück und so sehr es auch schaute, die Frau war nirgends mehr zu sehen. Aber seltsam, 3 tiefblaue Iris - so heißen die Schwertlilien mit ihrem anderen Namen - lagen wie frisch gepflückt plötzlich vor ihm auf dem Weg und es hatte zu seiner Freude doch noch ein Geschenk und einen Beweis für sein Erlebnis.
Die Puppe in einem Arm, die drei Blumen in der anderen Hand hüpfte die Kleine fröhlich den Weg nach Hause, froh bald wieder bei der Mutter sein, wie ein Schiff im sicheren Hafen. Ein leichter Wind hatte nun vollends die dunklen Wolken weggeblasen, Sonnenlicht strahlte über die ganze Natur und ließ nur noch die Tropfen, die auf Gräsern, Büschen und Bäumen hingen, wie kostbares Geschmeide funkeln, aber auch der Regenbogen hatte sich aufgelöst wie Nebeldunst. Auf der Höhe des Weizenfeldes kam auch die Mutter schon entgegen, angstvoll, sie hatte ihr Töchterchen schon überall gesucht und tadelte sich selbst, ihre Aufsicht während der Hausarbeit zu sehr vernachlässigt zu haben und so nahm ohne große Vorwürfel ihr Kind in die Arme, das sogleich - wie ein Wasserfall sprudelnd - von seinen Erlebnissen zu erzählen wusste.
Aber bei dem Bericht über die Dame in den Schwertlilien schauderte es der Mutter und sie drückte ihr Kind noch einmal fest an sich. Aber ausgeschimpft hat sie es  trotzdem und streng – unter Androhung empfindlicher Strafen – darauf eingeschworen, niemals mehr den festen Boden verlassen zu wollen.
Das hat es auch getan, aber Schwertlilien – besonders im tiefsten Blau – sind heute noch - im Erwachsenenalter - ihre Lieblingsblumen.

Epilog: Man sagt, die Schwertlilie sei  ein Symbol für die Götterbotin Iris, die über die Regenbogenbrücke geht, aber auch im abendländisch-christlichen Denken ein Symbol für Maria.

Abb.: Wikipedia
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Text: Elke Gelzleichter 2010