Montag, 7. November 2011

Mary Poppins fährt Bus.

Im Zauber eines kurzen Jahres
Sie hätte mit dem Auto zur Dienststelle fahren können, sie besaß einen Führerschein. Aber sie liebte es, ein öffentliches Verkehrsmittel zu benutzen, sie lassen es ihrer Meinung nach zu, dass die Menschen aus den Stereotypen des Alltags hinausfallen. Jeden Morgen vielleicht die gleichen Gesichter, aber jeder Morgen zeigt ein anderes Gesicht, am ausgeprägtesten in den Mienen der Menschen: Bekanntschaften wurden geknüpft, kleine Gespräche geführt,  und der Tag begann mit einem Lächeln.
Viele Jugendliche stiegen an den Haltestellen zu, blieben  meistens an Bord bis zur Endstation. Sie blickte oft wie unbeteiligt und verschlossen aus dem Fenster, jedoch die Ohren waren nicht verschlossen, oft war die Hilflosigkeit in der kleinen Gruppe, die sich jeden Morgen einfand, nicht zu überhören; denn ein Rest von Hausaufgaben war immer noch zu erledigen,  niemand zu Hause erübrigte offenbar Zeit für die Fragen eines Kindes.
Sie fand, dass es an der Zeit war, sich einzumischen, sie gab Ratschläge, die dankbar angenommen wurden, erteilte  gelegentlich eine Art Deutschunterricht, indem sie half, Sätze zu formulieren, andere Ausdrucksweisen anzubieten, gewürzt mit kleinen Andekdoten aus der eigenen Schulzeit und gelegentlichen Scherzen. Heiterkeit breitete sich aus: Der Busfahrer genoss es, keine streitenden Jugendlichen, kein Gegröhle. Und auch ihr gerieten die morgendlichen Fahrten meistens zu kurz. Lustig war es in der kleinen Gesellschaft, oft brach sie selbst in perlendes Lachen aus... Es blieb nicht aus, dass der Tag kam, an dem man ihren Vornamen wissen wollte. Sie nannte ihn und fragte nach dem Grund: „Weil es schade ist, dass du nicht unsere Lehrerin bist“, ein wunderbares Kompliment, das aber gleich noch eine Steigerung erfuhr: „Manchmal kommt es uns vor, dass du Mary Poppins bist und wir warten darauf, dass du hochfliegst, wenn du lachst!“

Sie war erschüttert, sie gab doch wenig, aber zugleich erschien es dieser Gruppe jugendlicher Mädchen wie  ein Gruß aus einem Märchenreich... wie bestürzend.
Es blieb noch ein zauberhafter Sommer. Mary Poppins fuhr Bus, gab Rat und lachte in dieser Gruppe heranwachsender junger Damen, die sie in alle ihre Fragen einbezogen -  Freunde, Familie und Schule – bis zum Herbst.
Das Schuljahr war zu Ende, auch für die Mädchengruppe – sie zerstreute sich: Einige begannen eine Lehre, andere wechselten auf eine andere Schule.
Der Zauber, im Rückblick einem Gemälde in Pastellfarben ähnelnd, war verflogen. 
 Aber dennoch war etwas geblieben: Manches Mal, wenn die Art ihres Lachens andere stört, sagt  sie: Lacht lieber mit, es gab eine Zeit, da hat man mich deshalb für Mary Poppins gehalten.










Gifs: Gifmania
Text Elke Gelzleichter, Nov. 2011